Material Begreifen
Neue Außenwände
Erkenntnisse aus der Lehrveranstaltung „Material Begreifen“ am Institut für Hochbau und Entwerfen, TU Wien, WS 24/25
In einem Interview wurde ich vor kurzem nach den größten Hürden bei der Reduktion von CO2 Emissionen im Bausektor gefragt. Meine damalige Antwort fokussierte auf drei Aspekte: das weitgehende Fehlen einer konsequent klimagerechten Haltung, mangelndes Grundlagenwissen zur Entwicklung dieser Haltung und spezifisch fehlendes Material-Know-how. Heute würde ich einen weiteren, entscheidenden Punkt ergänzen:
Wir brauchen experimentelle Räume, die Engagement wecken, Motivation für Neues schaffen und konkrete Versuche ermöglichen.
Universitäten bieten einen solchen Raum. Das unbelastete Interesse der Studierenden trifft vorurteilsfrei auf neues Materialwissen und neue Produktwelten. Im produktiven Zusammenspiel entstehen neue Aufbauten.
In meiner Lehrveranstaltung „Material Begreifen“ am Institut für Hochbau und Entwerfen, TU Wien entstanden sieben inspirierte Außenwandkonstruktionen. Mehr als die Hälfte davon zeigen komplett neue Lösungen vor.
Einen Folder dazu finden Sie hier:
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Eine klare Haltung zum Klimaschutz, gepaart mit neuem Materialwissen, bringt unweigerlich neue Konstruktionsweisen hervor.
01 | Stampflehm - Lehm von der Strabag zur Verfügung gestellt:
An zwei Nachmittagen erstellten die Studierenden ein Lehm-Mock-Up in den Dimensionen 50 x 50 x 60 cm. Der Versuch, diesen Prototyp zu bewegen, offenbarte unmittelbar die Grenzen des Stampflehms: Das hohe Gewicht und die instabilen Kanten. Unter der Last brachen die Transportrollen. Diese Erfahrung legt nahe, neue Wege zu erkunden - etwa durch die Beimischung leichter Zuschläge wie Blähton (Liapor) oder die Verwendung natürlicher Gesteinsmehle zur Verfestigung. Wobei im Lehmbau nach wie vor kontrovers diskutiert wird, ob die Erde ausschließlich in ihrer reinen Form oder auch modifiziert eingesetzt werden sollte.
02 | Stroh, Lehm, Holz - PANDOMO Clay, GIMA, maxit, Lunawood
René Schuch (Farbenhandel) kombinierte in seinem Haus im Burgenland GIMA Lehmziegel mit einer Strohdämmplatte von maxit, beide Produkte zu diesem Zeitpunkt noch vor Markteintritt. Die Strohdämmung soll ab Herbst verfügbar sein, die Lehmziegel sind bereits erhältlich.
Die Studierenden bauten diesen prototypischen Wandaufbau nach und ergänzten ihn innen mit einem Feinputz und einer PANDOMO Clay Beschichtung, außen mit einer dauerhaften Lunawood-Holzfassade. Die konstruktive Lösung erfordert einen vorgestellten Holzrahmen, da die Fassade nicht direkt am Lehmziegel befestigt werden kann.
03 | Grün, Hanf - Biolit, Schönthaler Stampf-Hanfkalk
Der CO2-negative Hanfkalk war unter den Studierenden von Anfang an favorisiert. Statt der einfacher zu verarbeitenden Hanfziegel entschieden sie sich für Stampfhanf als Sichtmauerwerk - analog zum Objekt ‚Clarissakork‘ im Bregenzerwald. Die statische Last trägt ein sichtbar belassener Holzrahmen, der Hanfkalk selbst hat keine tragende Funktion. Während üblicherweise ein Kalkputz außen die Winddichtheit gewährleistet, wählten die Studierenden hier eine andere Lösung: Eine Grünfassade sollte das Erscheinungsbild prägen. Da gängige Systeme auf Kunststoff, Styropor oder Mineralwolle basieren und dies dem Grundgedanken widersprochen hätte, kam das monolithische Kalksandstein-System von Biolit zum Einsatz. Die Steine wurden mit eingelegter Trennlage als verlorene Schalung für den Stampf-Hanfkalk aufgemauert.
04 | Holz, Kork - Nito, Ziro und abaton
Unsere Grundhaltung: Holz muss sparsam eingesetzt werden. Zudem sind stoffreine Verbindungnen zu wählen. Nur so kann das biogene CO2 am Ende der Nutzungszeit durch energetische Verwertung in einem Holz-Gas-Kraftwerk dauerhaft als Biokohle gebunden werden. Für den Wandaufbau wählten wir den Holzbaustein Nito, stoffrein mit Holznägeln vernagelt. Als Außenhaut dient Dämmkork, innen mit einem abaton Heiz-Kühlpanel mit einer Korkdämmschicht kombiniert. Der Dämmkork erfüllt zwei Funktionen: Außenhaut und Dämmstoff aus nachwachsendem Rohstoff. Seine EPD weist zudem einen bemerkenswerten Wert von -2000 kg CO2/m³ aus. Das Ergebnis ist ein schlanker, leistungsstarker und deutlich CO2-negativer Wandaufbau.
05 | Bestand, Dämmung, Fassade - ISOCELL, naturbo therm, Terratico
Die Bestandssanierung wurde am Beispiel einer Innendämmung mit gleichzeitiger Aufwertung des Fassadenbildes untersucht. Als Dämmmaterial kam die CO2-negative Zellulose-Einblasdämmung (ISOCELL) zum Einsatz, die sich besonders für Sanierungen eignet. Das naturbo Heiz-Kühlpanel, bestehend aus Lehmputz und Holzweichfaserdämmung, dient als verlorene Schalung für die Einblasdämmung und ermöglicht durch seine integrierte Flächenheizung gleichzeitig die Sanierung des Heizsystems. Ein Lehmfeinputz bildet den inneren Abschluss. Die äußere Gebäudehülle erhielt einen Recycling-Plastikterrazzo - ein Ansatz, der Kunststoff als wertvolle Ressource in den Materialkreislauf einbindet.
06 | CO2 neutraler Infraleichtbeton - TU Wien, Liapor, Omya, CarStorCon, Baumit, Impact Acoustic
Auch Beton wurde von einem Studierenden als Materialwunsch eingeworfen. Die Herausforderung, Beton als nachhaltigen Baustoff einzusetzen, führte zu einem experimentellen Ansatz: Ein monolithischer Infraleichtbeton mit einem Gewicht unter 800 kg/m³ in einer möglichst CO2 neutralen Ausführung. Langlebigkeit und Kreislauffähigkeit eines monolithischen Aufbaus wurde als Basis der nachhaltigen Ausrichtung definiert. In Zusammenarbeit mit Dr. Johannes Kirnbauer (TU Wien, Forschungsbereich Baustofflehre und Werkstoffkunde)und Harald Sommer (Liapor) gelang nach intensiven Laborversuchen eine CO2-neutrale Mischung aus Blähton, Perlite, Biokohle und CEM IIC mit einem berechneten Trockengewicht von etwa 700 kg/ m³. Dieser vielversprechende Versuch wird nun wissenschaftlich weiterverfolgt. Die monolithische Außenwand wurde im Mock-Up mit weichen Akustikpanelen aus Baumwollreststoffen (Upcycling, ARCHISONIC Cotton von Impact Acoustic) ergänzt.
07 | Holzmodulbau - RigaWood, X-fix, Plantacell, Wolf Bavaria, Packwall, Solarlab
Der Holzmodulbau hat großes Potenzial, als konstruktiv eigenständiges Bauelement einen neuen Standard im nachhaltigen Bauen zu definieren. Sparsamer Holzeinsatz in Kombination mit Dämmungen aus schnell nachwachsenden Rohstoffen schaffen ein skalierbares System der CO2 Speicherung - die Fassade wird zur CO2-Senke! Die Umsetzung erflogte mit einer schlanken Sperrholzkonstruktion (Riga Sperrholz mit Ligninkleber) und Stroh-Einblasdämmung (Plantacell), verbunden durch rückbaubare Holz-Holz Verbinder von x-fix. Der Aufbau nach außen: zusätzliche Holzfaserdämmung mit einer Photovoltaik-Schicht aus 80% Sekundärrohstoffen (Solarlab). Nach innen: eine Schalldämmung (Wolf Bavaria phonestar) und eine Sicht-Ausbauplatte aus rezyklierten Tetrapacks (Packwall).
Die Erkenntnis
Die entwickelten Wandaufbauten zeigen, wie vielfältig die Wege zu klimagerechtem Bauen sein können. Jeder Aufbau folgt dabei einer eigenen Logik - sei es durch die Kombination unerwarteter Materialien, die Neuinterpretation bekannter Baustoffe oder die konsequente Fokussierung auf Kreislauffähigkeit. Diese Vielfalt entstand im Spannungsfeld zwischen universitärer Forschung und praktischer Umsetzung, zwischen theoretischer Überlegung und händischer Erfahrung. Sie belegt, dass der Weg zu klimagerechtem Bauen nicht in der Optimierung bekannter Konstruktionen liegt, sondern im Mut, gewohnte Pfade zu verlassen.
Eine klare Haltung zum Klimaschutz, gepaart mit neuem Materialwissen, bringt unweigerlich neue Konstruktionsweisen hervor.
Leitung LV „Material Begreifen“:
Christine Bärnthaler
Bauphysikalische Beratung:
Klaus Petraschka, KPPK Ingenieure GmbH Wissenschaftliche
Betreuung:
Dr. Johannes Kirnbauer, Harald Sommer Hands-On
Teilnehmer:innen:
Arash Rezaienejad, Anna Schmidt, Brenda Bob, Emma Schneider, Elena Ventriglia, Finn Blindow, Marlene Melkus, Sven Neubauer, Titus Schürmann
Fotos:
Die verwendeten Fotos entsanden im Rahmen der Lehrveranstaltung durch die Studierenden und dem OFROOM Team.
Wir bedanken uns für die Kooperation und Unterstützung bei: